Wenn Licht Raum und Zeit umfängt.
Sorgsames, präzises Arbeiten und die Auseinandersetzung mit Licht, Raum und Zeit definieren das Werk von Gabriella Disler. Mit sensitiver und intuitiver Wachheit ertastet die Künstlerin unsichtbare Grenzen und öffnet mit skulpturalen Gesten neue Räume. Sie schärft mit leisen Tönen die Wahrnehmung für die Präsenz des Beiläufigen und Unspektakulären und lässt uns das Sehen von kleinen, scheinbar belanglosen Details mit besonderer Intensität erfahren. Gabriella Disler experimentiert mit unterschiedlichen Präsentationsformen, bewegt sich zwischen verschiedenen Ordnungssystemen, Vorgaben von künstlerischen Strategien und dem Einfangen des Zufalls. Oft beginnt sie ihren schöpferischen Prozess mit der Kamera. Die Fotografien können zum Werk selbst werden, als Dokument von künstlerischen Abläufenoder als Fundament für neue Arbeiten in anderen Medien dienen.
Licht als poetische Grösse
Fotografie und räumliche Installation bedingen sich oft gegenseitig im Oeuvre von Gabriella Disler. Manchmal öffnet das Lichtbild den Blick auf eine Installation - im umgekehrten Fall, können Raumgebilde als Lichtspuren auch im Zweidimensionalen auftreten.
In den Heliogravuren, Essenz I-III von 2013, erscheinen leuchtende Gebilde in der Dunkelheit als minimale, poetische Formen. Gleich einem hellen Speer und zwei Flügeln entfalten sie ihre Wirkkraft entlang einer Raumkante: Licht und Raum, vorgeführt in einer äussert verknappten Erscheinung.
Einen ganzen Ausstellungsraum orchestrierte die Künstlerin 2013 in der Kunsthalle Wil. Lichterscheinungen in unterschiedlichen, sich überlagernden Medien, wie Videoaufnahmen, Reflexionen auf raumhohen Plexiglasscheiben und aus dem Aussenraum einfallende Strahlen, führte die Künstlerin zu einer sich gegenseitig durchdringenden und ständig verändernden Lichtskulptur zusammen. Im Wechsel der Tageszeiten variierte die Farbtemperatur von warmen Orangerot zu kühlen Blautönen. Die gebaute Raumarchitektur trat in den Hintergrund, schien sich im Licht aufzulösen, um der Skulptur den Vortritt zu überlassen. Für das Publikum wurde das Raumerlebnis zu einer überwältigenden Erfahrung eines feinstofflichen, immateriellen Kunstwerks aus Licht.
Erinnerung im Raum
Eine andere Rolle spielte das Licht in disappearance memoires I&II, einem fotografischen Zyklus von 2012. Mehrmals reiste die Künstlerin nach Japan. Bei ihren Streifzügen durch ein nobles Quartier mit Spiegelfassaden und mehrstöckigen Bauten, fand sie einen dreiteiligen Apartmentkomplex aus dem Jahre 1930 mit teilweise leerstehenden Wohnungen. Fasziniert näherte sie sich dem alten Gebäude, um mit der Kamera das Innere zu erforschen. Durch kleine vergitterte Fenster, die in den Eingangstüren eingelassen waren, erhaschte sie fotografische Einblicke: Leere Räume, die gesättigt mit Erinnerungen an früheres Leben ihr stilles Dasein preisgaben. Lässt sich Zeit in Bildern festhalten? Beim Betrachten der Fotografien ist es, als
ob die Gegenwart von Schatten die stillen Räume belebt. Weiche, kaum wahrnehmbare Spuren scheinen sich wie Wesenheiten über die verlassenen Raumfluchten zu legen. Warmes Braun und Beige, vom Licht ausgeblichen, im Wechsel mit kühleren, gebrochenen Grün- und Blautönen entfalten darin ihre verhaltende Kraft. Ausschnitthaft und
herangezoomt sind die Szenarien, von fast ungegenständlicher Ausstrahlung. Rechtwinklige Flächen von Boden und Wänden, Diagonalen von Durchgängen, Schiebetüren und geöffnete kleine Schränke mit dunklem Innenleben sprechen eine abstrahierende
Sprache. Es sind kleine Details wie Leisten, Bordüren auf Bodenmatten,
Absplitterungen oder Lichtschalter und Türklinken, die den Rhythmus der Flächen durchbrechen und das Auge fangen. Sauber und ordentlich wirken die verlassenen Räume. Ihre Anonymität wird einmal von einem kleinen, runden Bild mit weissen Bäumen und Wolken auf blauem Grund durchbrochen. Dieser blaue Kosmos hat das Grosse im
Kleinen eingefangen, ein Bild mitten in diesen stillen Räumen, wo der Augenblick einer Weltanschauung aufblitzt und Zeitlichkeit im Raumkontinuum spürbar wird. Es sind solche poetischen Momente in den Bildern von Gabriella Disler, wo die Stille das Verstreichen des Lebens bewusst macht. Als ob Schmetterlingsflügel den Atem
berühren und Erinnertes mit dem Augenblick einer erahnten Zukunft verschmelzen lassen.
Zeitlose Natur
Die grossformatigen Fotografien urban oases waren 2018 in der Ausstellung en passant im Bellevue - Ort für Fotografie in Basel, zu sehen. Disler zeigte lichtdurchflutete Naturszenarien, die unsere Raumauffassung irritieren. Mehrere Bilder von versteckten Orten und städtischen Parklandschaften, überlagern sich in einem All-Over und verwandeln sich zu einem entgrenzten Farbraum in Grünblaunuancen. Nichts ist hier stabil, alles ist im Fluss, eine Natur, die sich selbst immer wieder neu hervorzubringen scheint. Aus immer anderen Perspektiven entsteht ein Kontinuum aus helleren und dunkleren Zonen, eine Landschaftspartitur komponiert aus an- und abschwellenden Licht- und Schattenbereichen. Oben und unten sind aufgehoben, wenn der Blick in dieses grünblaue Reich eindringt, wo sich das Licht im Flüstern des Blattwerks verliert, filigranes Geäst von feinsten Grünspuren durchwirkt und wie ein Gespinst aus Lebensadern erscheint. Dunkle Baumstämme behaupten sich und finden ihr Ebenbild in der Reflexion auf den hellen Wasserflächen, Strukturen mal staccatoartig, dann in weichen Übergängen auftretend, erscheinen wie unterschiedliche Gesten eines malerischen Duktus. In den dynamischen Bildern lebt ein Licht, das aus den Tiefen auftaucht, wie das Flüstern von Waldlandschaften aus der Vergangenheit, um sich mit dem flüchtigen Glanz der Gegenwart zu vermählen. Es scheint, als ob die Künstlerin das Objektiv mit dem Pinsel tauscht und unterschiedliche Bildgründe, Farbschichten und Zeitebenen mit einander verwebt, um einen Bildraum zu erschaffen, in dem sich Erinnerung und Augenblick begegnen.
Iris Kretzschmar